Unter Tonnen von Beton vergraben ... und an dein Blackberry geklammert

Unter Tonnen von Beton im Halbdunkel vergraben zu sein und keine Möglichkeit zu sehen, sich aus dieser Lage zu befreien, trägt sicherlich nicht gerade zu deinem Wohlbefinden bei. Diese Situation schärft deine Sinne in einer Weise, wie du es nicht für möglich gehalten hättest. Zum Beispiel ein entferntes Hecheln eines Hundes zu hören, das immer näher kommt, dann ein intensives Schnaufen, ehe das ohrenbetäubende Bellen beginnt … gerade einmal 2 bis 3 Meter über dir.

 

Blogbeitrag von Martin Oesterreicher

Der damalige Head of Casualty Division der Swiss Re leistete beim Einsatztest in Wangen, 2010, einen Freiwilligeneinsatz. Er war als Figurant, als ein Mensch, der gesucht wird, unter Trümmern versteckt.

 

Beginnen wir aber am Anfang. Es ist Freitagmorgen … und der Swiss Re Community Day mit REDOG, dem Schweizerischen Verein für Such- und Rettungshunde, der Suchhunde ausbildet, die unter Trümmern vermisste Personen lokalisieren. Zusammen mit einer mittelgrossen Gruppe von etwa 15 Swiss Re Kolleginnen und Kollegen finde ich mich so gegen 8 bis 9 Uhr morgens auf dem Übungsgelände der Schweizerischen Rettungstruppen in Wangen ein und erhalte interessante – zeitweise stark emotionelle –  Hintergrundinformationen über REDOG und die von ihnen geretteten Menschen.

 

Du solltest den angebotenen Kaffee auf keinen Fall trinken.

Martin Oesterreicher

... dann Verhaltensmassregeln für den bevorstehenden praktischen Teil … mit dem angekündigten „Tageshöhepunkt“, der als die einzigartige Gelegenheit beschrieben wird, ungefähr 150 Minuten lang in einem schmutzigen, mit Steinen gefüllten Raum unter mehreren Tonnen Beton verbringen zu dürfen.

… was tatsächlich aufregender ist, als man es sich vorstellen kann. Aber du solltest auf jeden Fall vorher auf die Toilette gehen. Sonst wirst du es später teuer bezahlen. Und du solltest den angebotenen Kaffee auf keinen Fall trinken – du könntest es bereuen.

Das “Einlochen” ist genau das, was es braucht, um dich mit deinen Ängsten in engen und dunklen Räumen auseinanderzusetzen … wenn deine Vorstellungsgabe nach etwa 90 Minuten Überstunden macht. War das  nun eine Maus oder eine Schlange? In Wangen gibt es doch keine Schlangen, soviel ich weiss … aber … was weiss ich denn eigentlich wirklich? Vielleicht eine gemeingefährliche Schwarze Mamba, die vor einigen Jahren aus ihrem Gehege ausgebrochen ist und das Militärübungsgelände zu ihrem neuen Heim gemacht hat? Na ja, man muss sich ja nicht gerade so aufregen.

... zieh deine Knie etwas näher an den Körper, um die energiesparende Embryoposition zu verfeinern … und weiter atmen. Da ist ja auch noch der Blackberry für dein Wohlbefinden. Schlangen beissen keine Menschen, die ein Blackberry in der Hand halten … solange es abgeschaltet ist!

Aber machen wir ein „reset“.

Zieh deine Knie etwas näher an den Körper, um die energiesparende Embryoposition zu verfeinern … und weiter atmen.

Als die Übung ernsthaft begann, wurde ich dem Team "A" zugeteilt und anschliessend aufgefordert, einen Helm, einen Schlafsack, eine kleine Taschenlampe, Arbeitshandschuhe, Knieschoner und eine dünne Camping-Schaummatratze zu fassen. Das "Team" (bestehend aus einer Kollegin und mir, da eine dritte Person noch vor dem eigentlichen Geschehen ausgestiegen war) bestand eigentlich nur für 5 Minuten.

Dann folgte ich nur noch alleine dem Instruktor, der mich in ein Gebäude führte, das weitgehend einer Bombenruine glich ... ganz tief die Treppen hinunter durch Trümmerhaufen in einen ehemaligen Kellerraum ... der Boden bedeckt mit Ziegeln, Trümmerstücken und Bauholz, die bei jeden meiner Schritte den Verdacht erhöhten, dass ein unvermeidlicher Teil unserer Erfahrung bei REDOG damit verbunden sein muss, im Halbdunkeln flach auf den Bauch zu fallen.

Nach einem Weilchen hielt der Instruktor an und begann, Ziegel, Steine und allesmögliche Zeug von einem Trümmerhaufen abzuräumen. Dieser gab bald eine kleine Öffnung frei, aus der ein eher junger und zerzauster Soldat im Tarnanzug herauskroch, nicht ohne vorher gefragt zu haben, ob das wirklich OK sei (?) und ob er nun wieder sprechen dürfe (?). Komisches Zeug ...

Du bist dran, sagte der Instruktor freundlich und schlug vor, dass ich mit den Beinen zuerst ins Loch kriechen sollte. Ist leichter so. Du bleibst nicht so oft stecken. Na ja, selbst mithilfe eines Schuhlöffels werde ich da nie hineinkommen ... war meine spontane Abschätzung dieser riskanten Situation. Was soll’s ... dies ist eine humanitäre Geste und verlangt nach Opfern. Ich hörte auch noch den verschwindenden Soldaten sagen (nicht sehr erleuchtend … aber zu guter Letzt und End sehr hilfreich), dass ich mich wahrscheinlich innen umdrehen kann, wenn ich nur nahe genug an der linken Mauer bleibe. Hmmm….

Also, ich quetschte mich über etwas in den Hohlraum, was sich wie eine Holzpalette anfühlte, die auf Geröll liegt, und mein Ohr vernahm die Anweisung, dass ich – wenn einmal drinnen – das Loch auch von meiner Seite mit den 4 bis 5 herumliegenden Ziegelsteinen zustopfen sollte, während auch von aussen das Loch mit Steinen endgültig versiegelt wurde. Diese Steine aus dem Weg zu räumen, war im Übrigen meine einzige Chance, um mir genügend Platz zu verschaffen, damit ich mich aus der Rückenlage in eine etwas bequemere Embryo-Position kämpfen konnte, meine rechte Schulter gegen die Decke gepresst und die Knie gegen die seitliche Mauer gestemmt. Platz war sicherlich Mangelware. Aber da war ja noch mehr davon näher an der linken Wand. Du solltest immer gutem Rat folgen!

Stellen Sie sich vor, während meines Militärdienstes hatte man mich eines Tages "vergessen"...

Ich benötigte ungefähr 15 Minuten, um die Schaummatratze an den richtigen Platz zu manövrieren und den Schlafsack wenigstens bis in die Taille hochzuziehen. Weiter ging es nicht. Es war eine recht interessante Erfahrung, all das im Halbdunkel und mit geschlossenen Augen zu vollbringen, denn ich hatte bereits schnell wegen der räumlichen Beschränktheit die Taschenlampe aufgegeben. Zudem konnte ich meinen Kopf gar nicht hoch genug heben, um meine Schuhspitzen zu sehen. Werden wir nicht dafür bezahlt, uns anzupassen und zu improvisieren ... mit herzlichen Grüssen aus Heartbreak Ridge.

Nach einiger Zeit konnte ich mich einrichten und die bequemste Position finden, meinen Helm als improvisiertes Kopfpolster gegen einen der Ziegelsteine gepresst. Von diesem Moment an drehte sich alles nur noch um’s Hören ... und darum, sich nicht in sehr wenig hilfreichen Gendanken daran zu verlieren, was alles hier unten passieren könnte ... ehe diese Gedanken auch nur den äussersten Rand meiner Vorstellungsgabe erreichen konnten.

Stellen Sie sich vor, während meines Militärdienstes vor so ungefähr 30 Jahren, hat man mich eines Tages “vergessen” und mich ganz alleine in der “Verteidigungsposition” gegen eine voraussehbare Panzerattacke zurückgelassen, die ganze Nacht und einen guten Teil des folgenden Morgens. Ich weiss also, dass solche Sachen geschehen können ... aber nicht bei REDOG.

 

… und dann hörte ich ihn … „meinen ersten Hund“.

Die Zeit verging langsam ... ich konnte nicht schlafen ... hörte ein Feuer ganz nahe ... und dann etwas, das wie ein Flammenwerfer klang (es war ein Löschgerät, wie ich es am Nachmittag feststellen konnte) … und dann hörte ich ihn … „meinen ersten Hund“. Erst einmal weit entferntes Hecheln. Dann schweres Schnaufen und Schnüffeln. Plötzlich schien er direkt bei mir zu sein. Oder besser gesagt über mir. Wo auch immer dieses “über” war. Und dann wurde er (na ja, es war eine sie, wie ich bald herausfand) richtig aufgeregt und bellte lauter und lauter. Tolle Energie bei der Arbeit!

Dann hörte ich auch das "Yuppie! Yuppie! Yuppie! " (so hat es in meinen Ohren geklungen)  der mindestens ebenso aufgeregten Hundeführerin. Sie schrie auch jemandem zu, dass sie „eine Anzeige“ hätte und einen zweiten Hund und Retter anfordere. Noch ehe sie ihren Hund mit Koseworten belohnte, rief sie in meine Richtung, um eine Reaktion von mir zu erhalten … was natürlich total nutzlos war, weil ich doch bewusstlos war und meine ausgezeichneten schauspielerischen Fähigkeiten es nicht zuliessen, ihrem Wunsch zu entsprechen.   

Um die lange Geschichte etwas abzukürzen (obwohl noch weitaus mehr darüber zu schreiben wäre): Nachdem ich persönlich die Gelegenheit hatte, ungefragt etwa 5 Hundeteams zu “beurteilen” und etwa 2 ½ Stunden an diesem gemütlichen Ort zugebracht hatte ... und nach 3 Krampfanfällen (da habe ich wirklich gelitten, aber Gott sei Dank war es nicht die “Killerkrampf”-Sorte), hörte ich sich Schritte nähern und eine Stimme, die mir sagte, dass es nun zu Ende sei und dass ich herauskommen könne...

Was für ein Angebot! Ich konnte gar nicht daran denken herauszukommen, wenn nicht einige helfende Hände an mir zogen, um mich zu befreien, jedes Mal wenn ich stecken blieb, obwohl wir doch all das Geröll vorsichtig ausgeräumt hatten,  einschliesslich meiner 4 bis 5 Ziegelsteine, einen nach dem anderen, alle mühsam über den Kopf gehoben.

Hat es mir gefallen?

Das will ich doch meinen, es war eine tolle Erfahrung und wenn auch nur einer dieser Hunde einen Menschen in einem reellen Rettungseinsatz finden kann, war diese Übung es mehrere 1000 Male wert. 8 von den 12 Hundeteams, die den Test beendet haben (zwei mussten leider aus Gesundheitsgründen abbrechen), haben den Test schliesslich bestanden und sie alle werden vielleicht in Zukunft an einem Ernsteinsatz teilnehmen. Ich werde ihnen sicher die Daumen halten, dass ihre Hunde oft bellen und anzeigen können.

REDOG und Swiss Re. Das sieht wie eine tolle Partnerschaft aus und ich hoffe sehr, dass in den kommenden Monaten und Jahren noch viele von unseren Kolleginnen und Kollegen die Gelegenheit haben werden, über grosse humanitäre Arbeit zu erfahren, für die sich die Hundeführerinnen und Hundeführer mit ihren Hunden, und auch alle anderen Freiwilligen engagieren.

Sie verdienen wahrlich alle erdenkliche Unterstützung, und unter Trümmern vergraben zu sein ist nur ein ganz kleiner Beitrag ... solange sie nicht vergessen, dass du da bist ... und solange du nicht steif gefroren bist ,wenn es dann „zu Ende“  ist und du dann doch noch fähig bist, dieses köstliche Sandwich zu essen, das du die ganze Zeit mit dir herumgetragen hast.